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Notizen zum Fach Christliche Sozialethik

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Entgegen einer seit den 1970er-Jahren verbreiteten Annahme, der Fortschritt bestimmter Wissenschaftsgebiete werde eine ›Entmoralisierung‹ der öffentlichen Debatten zur Folge haben und die Ethik obsolet werden lassen, ist der ›Ruf nach Ethik‹ in Politik und Publizistik, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften nicht verstummt; und er wird angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart immer lauter. Dabei ist freilich unklar, um welche Ethik es denn gehen soll; und ebenso ist unklar, warum ›mehr Ethik‹ in der Lage sein sollte, gravierende und komplexe Probleme, die etwa mit dem Klimawandel einhergehen, angemessen zu behandeln, vielleicht sogar zu lösen. Nicht-beherrschbare Auswirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften, die unvorhersehbaren Folgen der gesellschaftlichen Prozesse von Individualisierung, Säkularisierung[1] und Globalisierung machen das Zusammenleben der Menschen auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene immer unübersichtlicher, komplizierter und herausfordernder, schaffen immer mehr Freiheitsgewinne, aber auch Orientierungsverluste. Dass der Ruf nach mehr ethischer Orientierung zunimmt, ist daher nicht verwunderlich.[2]

Grob und etwas vereinfachend gesagt, lassen sich drei Grundrichtungen ethischer Reflexion unterscheiden: utilitaristisch-konsequentialistische Ethiken, rechtebasiert-kontraktualistische (deontologische) Ethiken und essentialistisch-teleologische Ethiken.[3] Diese Ethiken stehen in Ergänzung und Widerstreit und versuchen nicht nur die individualethische Frage zu klären, welche individuelle Handlungsweise gut oder richtig ist; sie versuchen auch Antworten zu geben auf die sozialethische Frage, welche Ordnung sozialer Beziehungen und politisch-gesellschaftlicher Verhältnisse ethisch vorzugswürdig ist. Um zu belastbaren Infragestellungen bestimmter Ordnungen und zu diskursiv plausibel begründeten Aussagen vorzustoßen, sind u.a. Spannungen zwischen Menschenrechten mit universalem Geltungsanspruch und partikularem Ethos zu überbrücken.

Dem Aufspüren normativer Hintergrundannahmen, dem Identifizieren von (oft unaufgeklärten) Wert(ung)en, die mit Argumenten und Meinungsäußerungen in wissenschaftlichen Beiträgen, politischen Stellungnahmen und öffentlichen Debatten einhergehen, aber auch der eigenen Positionierung, d.h. dem Abwägen und Priorisieren von teils konträren ethischen Positionen, und daran anschließend der Erarbeitung von sozialethischem Orientierungswissen und politischen Gestaltungsoptionen – diesen Aufgaben und Herausforderungen hat sich die Christliche Sozialethik (CSE) verschrieben.

Das Fach CSE firmiert(e) unter unterschiedlichen Namen: »Christliche Gesellschaftslehre«, »Christliche Sozialethik«, »Christliche Soziallehre«, »Christliche Sozialwissenschaften« etc. Eine einheitliche Methodologie besteht nicht.[4] Die CSE ist im doppelten Sinne ein ›Differenzierungsfach‹. Einerseits sollen Werte und Normen aufgespürt, differenziert und expliziert sowie – verbunden mit Aspekten Sozialer Gerechtigkeit[5] – in einen politischen Entscheidungskontext gestellt und politisch-gesellschaftliche Alternativen aufgewiesen werden. Andererseits ist das Fach selbst ein ›Kind‹ zunehmender Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften. Denn angesichts der gesellschaftlichen Verwerfungen und strukturellen Problemlagen des 19. Jahrhunderts (der sog. Sozialen Frage) erwiesen sich die individualethischen Zugänge der damaligen Moraltheologie als nicht mehr tragfähig. Mit Rerum novarum – der ersten Sozialenzyklika, die Papst Leo XIII. 1891 veröffentlichte und die als Startschuss der CSE gilt – machte das päpstliche Lehramt deutlich, dass gesellschaftlichen Problemlagen nicht allein mit Appellen an Barmherzigkeit und Nächstenliebe beizukommen ist. Vielmehr gilt: Politisch-strukturelle Herausforderungen verlangen politisch-strukturelle Antworten. Später entstand aus dieser Einsicht ein neues Fach im Fächerkanon der Katholischen Theologie, das im engen Austausch mit sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen und mit sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Expertise die Sozialen Fragen moderner Gesellschaften bearbeitet.

Der Startpunkt der CSE fällt auch zusammen mit dem wissenschaftlichen Aufweis zunehmender und sich verdichtender Abhängigkeitsverhältnisse der Menschen in den Industriegesellschaften des 19. Jahrhunderts.[6] Diese unentrinnbaren Interdependenzen mit ihren spezifischen sozialen Risiken wurden weitgehend moralfrei als faktische Solidaritäten beschrieben. Die Freiheitszuwächse der Bürger*innen – die gestiegenen Möglichkeiten jeder*s einzelnen, sich persönlich zu entfalten – waren erst durch Urbanisierung und soziale Verdichtung, wachsende Arbeitsteilung und funktionale Ausdifferenzierung möglich geworden, die moderne Massengesellschaften in zentraler Weise kennzeichnen; also dadurch, dass Menschen in hohem Maße von Leistungen abhängig sind, die anonyme Andere in hocharbeitsteiligen Prozessen erbringen. Der französische Soziologe Émile Durkheim machte die sozialwissenschaftliche Einsicht, dass das Individuum »zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer«[7] (= abhängiger) werde, gar zum Ausgangspunkt seiner Forschung. Liberales Freiheits- und Selbstbestimmungsdenken wurde mit dem Denken in faktischen Abhängigkeits- und Interdependenzverhältnissen (= Solidaritäten) gekoppelt (und gerade nicht entkoppelt). Dies führte erst in Frankreich und dann in Deutschland zu solidaristischen Gesellschaftstheorien und Politikvorstellungen, die auch das Solidaritätsverständnis der CSE entscheidend prägten.[8]

Während die faktischen Solidaritäten von Bürger*innen moderner, hocharbeitsteiliger Massengesellschaften eine wissenschaftliche Entdeckung ersten Ranges waren und der Begriff der Solidarität (zumindest in den Sozialwissenschaften) zunächst als »kalte[s], stahlharte[s] Wort« – »in dem Ofen wissenschaftlichen Denkens geglüht«[9] – fungierte, war die Soziale Gerechtigkeit, auf deren Fragen die CSE verwiesen ist, kein akademischer politisch-philosophischer Begriff, sondern ein Wort, das der politisch engagierten Praxis entstammte: Es »wurde geboren nicht im Kreise der Fachgelehrten, sondern im gesellschaftlichen Leben, im heißen Kampfe um die Verwirklichung dessen, was die auf der Schattenseite des Lebens sitzenden, sich enterbt fühlenden Kreise der menschlichen Gesellschaft als ihr Recht forderten«[10]. Historisch weist die CSE also nicht nur akademische Bezüge zu sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen auf, von denen das Fach die faktischen Interdependenzen als moderne gesellschaftliche Ausgangsrealitäten anzuerkennen lernte. Sie ist vielmehr auch ein ›Kind‹ des politisch-praktischen Bemühens, Antworten auf die Soziale Frage zu finden und die Lebensbedingungen der eigentumslosen Nurlohnarbeiter*innen, der Benachteiligten und Abgehängten der gesellschaftlichen Entwicklung, der Armen, Kranken und Schwachen nachhaltig und effektiv zu verbessern. Für die CSE charakteristisch sind daher von Anfang an und bis heute (a) Bezüge zu konkreten Akteuren, z.B. zu alten und neuen sozialen Bewegungen innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche, und (b) Bezüge zur kirchlichen Sozialverkündigung und deren Entwicklung, zur kirchlichen Suche nach Wegen und Perspektiven einer gerechten und solidarischen Gesellschaft in der Tradition der biblischen ›Option für die Armen‹. Damit ist eine akteurszentrierte Perspektive auf befreiende, emanzipatorische Praxis angesprochen, die der CSE eigen ist.

Als theologisches Fach in die Theologie hineinwirkend (ad intra) hilft die CSE mit, Strukturen kirchlichen Handelns gesellschafts- und sozialkritisch zu befragen, kirchlichen Verantwortungsträger*innen politisch-gesellschaftliche Themen und Anliegen – im Austausch mit sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen – aufzuschlüsseln und glaubenden Menschen, die sich als Christ*innen in moderner Gesellschaft verstehen wollen, Orientierungen für ihr politisch-praktisches Glaubenshandeln zu geben.

Ad extra hilft die CSE mit, eigene Positionen und Motivkreise (z.B. Überlegungen zu Personalität, Solidarität und Subsidiarität, zum Motiv der Gemeinwidmung der Erdengüter und der Bewahrung der Schöpfung, zur Individual- und Sozialfunktion des Eigentums, zu Marktwirtschaft und Klassengesellschaft, zur Friedens- und Umweltethik etc.) auf dem heutigen Diskursniveau zu rekonstruieren und in den Dialog mit sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen und Akteuren befreiender, emanzipatorischer Praxis zu stellen. Zudem hilft sie mit, normative Annahmen zu explizieren und ethisch zu reflektieren, in einen politischen Entscheidungskontext zu stellen sowie Alternativen aufzuweisen – vor dem Hintergrund der großen Fragen, wie eine gerechte(re) Gesellschaft, national und weltweit, aussehen könnte und wie sie gestaltet werden sollte.

Text: Jonas Hagedorn (Januar 2023)

 

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[1] Damit ist hier vereinfacht gemeint die Schwächung der Religion als Faktor, der gesellschaftlich integrierend wirken könnte.
[2] Vgl. Reuter, H.-R. (2015): Grundlagen und Methoden der Ethik. In: W. Huber, T. Meireis und H.-R. Reuter (Hg.): Handbuch der Evangelischen Ethik. München: C.H. Beck, S. 9–123, hier: S. 11–14.
[3] Vgl. Emunds, B. (2014): Politische Wirtschaftsethik globaler Finanzmärkte. Wiesbaden: Springer Gabler, S. 128–133, 152–155.
[4] Vgl. Möhring-Hesse, M. (2019): Wissenschaftlichkeit der theologischen Sozialethik. In: B. P. Göcke und L. V. Ohler (Hg.): Die Wissenschaftlichkeit der Theologie. Band 2: Katholische Disziplinen und ihre Wissenschaftstheorien. Münster: Aschendorff (Studien zur systematischen Theologie, Ethik und Philosophie, Band 13/2), S. 217–243.
[5] Neben der Tausch-, Verteilungs- und Regel- bzw. Verfahrensgerechtigkeit (iustitia commutativa, iustitia distributiva, iustitia legalis) zählt die Beteiligungsgerechtigkeit (iustitia contributiva) zu den Aspekten Sozialer Gerechtigkeit. Weitere Teilaspekte sind hinzugetreten, die etwa unter den Begriffen Bedarfs-, Chancen-, Generationen-, Geschlechter- und Leistungsgerechtigkeit firmieren.
[6] Zu denken ist hier insbesondere an die soziologischen Erkenntnisse der im Entstehen begriffenen soziologischen Disziplin, aber auch an medizinische Fortschritte, z.B. im Bereich der Bakteriologie.
[7] Durkheim, E. (1902/2012): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (1902). 6. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (stw 1005), S. 82.
[8] Vgl. dazu vor allem Große Kracht, H.-J. (2017): Solidarität und Solidarismus. Postliberale Suchbewegungen zur normativen Selbstverständigung moderner Gesellschaften. Bielefeld: transcript; Große Kracht, H.-J. (2021): Soziale Tatsache, Grundwert oder Tugend? Zur Begriffsgeschichte der Solidarität im 19. und 20. Jahrhundert. In: »Hoch die internationale …«? Praktiken und Ideen der Solidarität. Archiv für Sozialgeschichte, 60. Band (2020). Bonn: Verlag J. H. W. Dietz Nachf., S. 29–49.
[9] Eisner, K. (1908/1969): Solidarität. Der vierte Brief »An eine Freundin« (1908). In: Ders.: Die halbe Macht den Räten. Ausgewählte Aufsätze und Reden. Eingeleitet und herausgegeben von R. und G. Schmolze. Köln: J. Hegner, S. 213–217, hier: S. 217.
[10] Nell-Breuning, O. v. (1958): Iustitia socialis. In: Ders.: Zur Sozialen Frage. Beiträge zu einem Wörterbuch der Politik. Heft 3. Zweite, neubearbeitete Auflage. Freiburg i. Br.: Herder, Sp. 35–44, hier: Sp. 35 f.